Tränen vom Himmel

„Wissen Sie, wir saßen auf den Gartenstühlen und ich merkte, dass ich keinen Unterleger hatte. Meine Gesäßknochen drückten auf den Stuhl, weswegen sie beinahe weh taten.“

Was haben Sie dabei gefühlt?“

Sie dachte kurz nach, versunken in die Gedanken, die ihr vor ihrem inneren Auge den Film des Wochenendes vorspielten.
„Ich fühlte mich unwohl. Ich wollte nicht aussprechen, was ich fühlte, denn damit könnte ich einen Konflikt provozieren. Die Sonne schien mir ins Gesicht und die Vögel zwitscherten. Der Frieden um mich herum, verunsicherte mich noch mehr, denn wie könnte an so einem Tag eine tosende Wut in mir sein? Es regte mich einfach auf, das er mir nicht zuhörte. Warum kann er mir nicht einfach zuhören und mich bestärken, anstatt mir zu sagen wie ich was handhaben muss. Mein 14 Jähriges Ich ist nicht mehr mein aktuelles Ich.“ Sie war kurz davor eine Träne von ihrem inneren und äußeren Auge frei zu lassen.

Hat ihr Onkel Sie in den Arm genommen, als er damals davon erfahren hat?“

„Ja hat er. Er hat damals bei der Beerdigung gesagt, dass er auf mich aufpassen werde und versuchen wird mir ein Zuhause zu geben, was nicht voller Trauer sein wird. Hätte ich nur damals gewusst wie sehr die Trauer um seinen Bruder ihn von innen zerfressen hat. Manchmal sehe ich ihn in meinem Onkel und ich merke wie lieb er mich hat, aber oft, wenn ich von mir erzähle, hab ich das Gefühl, dass die Sorgen mich zu verlieren ihn nicht sehen lassen, was meine Situation ist.“

Was meinen Sie mit ihrer Situation? Und Sie meinten er habe Sie umarmt, aber Ihnen fällt zuerst das ein, was er gesagt hat. Was meinen Sie hat das für einen Grund?

„Hab ich gar nicht bemerkt“, entgegnete sie dem Therapeuten. „Ich glaube die Umarmung ist so lange her, dass ich mich nicht an das Gefühl erinnere, was es in mir ausgelöst hat. Ich kann nur mutmaßen, dass ich mich geborgen gefühlt habe. Die Worte von ihm hallen in mir nach, wenn wir reden, aber eher als Vorwurf im Sinne „Du hast gesagt mein Zuhause solle nicht voller Trauer sein, aber stattdessen ist es voll von Angst“. Sie umarmte ihren Schal, der auf ihrem Schoß lagt, als wäre dieser eine kleine Katze, die sie emotional beruhigen könnte.

„Zu meiner Situation denke ich, dass ich nicht mehr das kleine Mädchen bin , was nur auf Partys gehen möchte, um im Alkohol die Gedanken zu ertränken, die mich zu dem selbstvergessenen Teenager machten, das mein Onkel um 1Uhr stockbetrunken von fremden Wohnungen abholen musste. Ich verstehe auch, dass das für ihn schlimm gewesen sein muss, denn manche Nächte konnte er vor Sorge nicht schlafen. Was das angeht, hab ich meinen Job als seine Tochter-Nichte wirklich nicht vorbildlich gemacht. Leicht hatte er es mit mir denke ich nicht.
Aber inzwischen hab’ einen Job, bezahle meine Miete und kümmere mich um Lebewesen. „Mit deiner Organisation sind die beiden bestimmt öfter alleine als du denkst“, sagte mein Onkel nur, als ich die beiden Wellensittiche einer alten Dame abkaufte, die von einem Tag auf den anderen das Gezwitscher nicht mehr aushielt. Warum sagte er nicht einfach, dass er sich für mich freue und dass es den beiden bei mir sicherlich gut gehen würde. Stattdessen immer nur die Zweifel an mir.“

Er vertraut nicht auf Sie, dass Sie sich um jemand anderen – in dem Fall Wellensittiche- kümmern können, weil er davon ausgeht, dass Sie ihn immer noch brauchen und alleine nicht zurecht kommen?“

„Ja das kann gut sein.“ Sie nahm einen Schluck von dem Wasser, was in geringer Entfernung von ihr auf einem kleinen Tisch stand. Während sie die Flüssigkeit durch ihre Speiseröhre fließen ließ, schaute sie auf die kleine Blume, die als Zierde neben der Karaffe Wasser stand. Ihr Therapeut hatte ein Auge für kleine Akzente in minimalistischen Räumen.
„Ich denke manchmal wegen ihm, dass ich mich wirklich nicht um die beiden Vögel kümmern kann, obwohl es den beiden in meiner Voliere ganz gut geht. Also glaube ich, denn da ist das Problem, dass die Wellensittiche nicht mit uns sprechen können beziehungsweise wir nicht mit ihnen. Blöd gelaufen..“

Ich denke die Zweifel von ihrem Onkel, die er an Ihnen äußert, färben auf Sie ab. Sie sind verunsichert, weil Ihnen wichtig ist, was er von Ihnen denkt. Er ist Ihr einziges verbliebenes Familienmitglied, was Sie vielleicht zusätzlich unter Druck setzt eine gute Bindung zu ihm zu haben. Macht es Sie wütend, dass Sie in ein Abhängigkeitsgefühl getrieben werden?“

„Ich weiß nicht, ob ich das als Abhängigkeitsgefühl beschreiben würde. Es ist eher der Gedanke, dass er nicht versteht, dass ich nicht seine Sorgen brauche, sondern seine Unterstützung. Wenn ich ihn fragen würde, was er darüber denkt und er würde dann seine Meinung sagen, dann wäre das eine andere Situation. Ich glaube es macht mich so wütend, weil ich merke, dass er an mir interessiert ist wie ich mein Leben lebe, aber auf der anderen Seite hat er kein Verständnis dafür wie ich es gestalte. Ich lebe nun mal nicht wie er. Ich regle meine Angelegenheiten anders als er. Natürlich habe ich Angst, dass wir uns streiten, aber ich denke ich bin ebenfalls seine einzige Familie. Das Abhängigkeitsgefühl“, was entstehen könnte, wäre in jedem Fall ausgeglichen würde ich sagen. Was nicht ausgeglichen ist, ist, wenn wir über meine Zukunft reden. Ich fühle mich dann wieder wie 14 und denke, dass mein Vater sicherlich mehr Emotionen mir gegenüber gezeigt hätte.“ Sie machte eine kurze Denkpause.
„Das hört sich so undankbar an, ich habe meinen Onkel wirklich lieb.“

Sie brauchen sich nicht rechtfertigen. Ich denke es ist ganz normal, dass Sie ein „was wäre wenn“ Gedanken haben, da Sie sich fragen wie es wohl mit ihrem leiblichen Vater gewesen wäre. Hätten Sie die gleichen oder andere Probleme? Ich denke das ist Teil des Vermissens, was Sie mit ihrem Onkel teilen. Sie beide vermissen Ihren Vater und können auf der Ebene emotional kommunizieren. Sie haben mir erzählt, dass Sie mit ihrem Onkel jedes Jahr den Geburtstag Ihres Vaters feiern, einmal am Grab, wo sie Schokokuchen essen und einmal Zuhause, wo sie die „Papas Gute Nacht Playlist“ zusammen rauf und runter hörten und für ihn Pizza mitbestellten. Das klingt für mich nach etwas, was sie gemeinsam teilen, aber in der Kommunikation untereinander fehlt die Emotion, weil da die Angst ist von ihrem Onkel, dass er den nächsten Geburtstag von Ihnen auch an Ihrem Grab feiern muss. Und Ihre Wut ist, dass Sie nicht erfahren können wie es mit ihrem Vater gewesen wäre. Und sie fühlen sich bevormundet in ihrem Leben, weil er Ihnen ungefragt Ratschläge gibt. Denn eigentlich haben Sie das nötige Selbstvertrauen.
Was denken Sie dazu?

Einige Tränen von ihr waren frei, suchten sich den Weg zu ihrem katzenähnlichen Schal. Einige Zeit verging und sie nahm noch einen Schluck Wasser bevor sie antwortet.
„Ich denke gerade an den letzten Geburtstag von meinem Vater, wo genau das Gefühl hochkam, was Sie beschreiben. Warum konnte er nicht mit uns Pizza essen? Warum konnte er nicht die Playlist anmachen und versuchen zu schlafen, was ihm meistens nicht gelang, da er an Insomnie litt. Warum konnte er nicht sagen, dass es unvernünftig ist um 12Uhr schon mit einem Sekt anzustoßen? Warum war ich hier und er fort?“

Was hätten Sie damals gebraucht?

„Eine Umarmung. Meinen Vater. Eine Perspektive, dass sich das Gefühl im Inneren einmal verändert und nicht immer nur scheiße ist. Aktuell denke ich, dass es weniger scheiße ist, aber manchmal überkommt mich noch dieses Gefühl von Kohlensäure im Magen, die gegen die Magensäure ankämpft, dieses Gefühl von Übelkeit und Aufregung, die Gewissheit allein zu sein.“

Würden Sie sich heute eine Umarmung von Ihrem Onkel einfordern? Könnten Sie ihr Bedürfnis kommunizieren?

„Ich glaube ich könnte es schaffen, nur wenn die Wut da ist, will ich ihn nicht umarmen.“

Das ist verständlich. Wie bei der Umarmung, können Sie es versuchen zu sagen wie es Ihnen geht, indem Sie sagen „Ich fühle mich gerade unsicher, weil du xy gesagt hast“ . Das Pendant bei der Umarmung dazu wäre eben zu sagen, dass Sie gerade eine Umarmung gebrauchen könnten. Versuchen Sie sich aus und wenn Sie es nicht wollen oder schaffen, dann ist das vollkommen okay. Möchten Sie zum Abschluss der Stunde noch was loswerden?

„Nein, ich muss erstmal das Zerdenken, was wir besprochen haben. Danke Herr Unmut.“
Sie machte ihre Katze um ihren Hals, zog sich ihren Mantel an und nahm den nassen Regenschirm aus der Ecke. Mit einem Kopfnicken und einem leisen „Tschüss“ verließ sie den Raum.
Draußen war es kalt und es regnete weiter. Sie spannte den Regenschirm auf und fühlte sich verlogen. Warum störte Sie das Nass ihrer Tränen nicht, aber wenn der Himmel weinte, dann musste Sie sich schützen? Sie fühlte sich feige, obwohl sie wusste, dass der Himmel nicht wirklich Gefühle hatte, oder?

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