Der stille Ort

Frau auf der Gartenbank, Leo Putz

Ein stiller Ort lag vor ihr. Das Sonnenlicht kitzelte die Wasseroberfläche des Baches, der direkt durch ihren Garten führte. Der Schaukelstuhl aus braun geflochtenem Holz hatte die Seele ihres Großvaters, der, während sie als Kind auf seinem Schoß saß, gerne eine Pfeife rauchte. Die Pfeife roch in ihrer Kindernase nach Ruß aus dem Kamin und gleichzeitig nach einem Stiefmütterchenbeet. Als Kind saß sie häufig auf dem Schoß ihres Großvaters, der sie auch Zuhause unterrichtete. Er war ein wandelndes Lexikon, was Gartenkunde und Pfeifen anging. Sie schaukelte in ihrem Sessel hin und her, dachte an ihren Großvater.

Die Stille des Ortes war ihre erste Unterrichtsstunde als Kind gewesen. Sie war ein lautes, wildes Kind, dass gelegentlich über die Beete ihres Großvaters eine Abkürzung nahm, um schneller beim Bach zu sein. Die Beete waren reich besäht mit Kohlsamen, Steckrüben, Salaten und Rhababer. Die Samen hatte ihr Großvater von einem Händler gekauft, der auch im Auftrag des Kaisers den Palastgarten belieferte. „Dies ist ein stiller Ort mein Kind. Du kennst diesen Ort als Nutzfläche für uns Menschen, dabei sind wir bloß Besucher und nehmen uns Teile des ruhigen Ortes, um sie laut zu machen. Das Beet dahinten war früher eine Wiese, wo die Bienen umherflogen, die Blumen bestäubten und eine Musik hinterließen, die vibrierte. Sie gaben die Lautstärke dieses Ortes an. Nun bin ich es, der die Lautstärke des Ortes bestimmt, denn meine Spitzhacken, mein Pflug und meine Hände, die sich in die Erde graben, lösen Geräusche im Erdreich aus, die die Natur nicht von sich aus gehört hätte“, sagte er in einem Flüsterton. Sie gluckste damals nur, verstand die Worte ihres Großvaters nicht. Sie wollte spielen, die Enten aufscheuchen, Gänseblümchen pflücken und zu Ketten machen, die ihre langen braunen Haare schmücken sollten. Häufig redete ihr Großvater in langen, ausgeschmückten Sätzen, denen sie keine Aufmerksamkeit schenkte, aber sie wusste, dass sie ihm lauschen musste, denn sonst würde sie erst Recht nicht die Enten verscheuchen dürfen. „Erst wenn du die Lektion der Stille verstehst, darfst du deine Lautstärke an den stillen Ort bringen“, sagte er an einem Tag zu ihr, als sie beim Vögel beobachten nicht still halten konnte. Jetzt saß sie an diesem stillen Ort, der ihr gar nicht still erschien. Die Vögel zwitscherten, der Bach plätscherte und der Wind brachte die Blätter der Bäume zum Rasseln, sodass hin und wieder Kirschen ihren Weg zum Erdboden fanden. Ihre Lautstärke von ihrer Kindheit war verblasst, genau wie ihre Haut seit ihr Großvater und ihr Ehemann verstarben. „Die Lektion der Stille ist, mein Kind, dass du von ihr mehr nährst als von der Lautstärke, denn erst die Stille lässt dich erkennen, was es bedeutet sich in die Natur einzufügen. Wir sind Besucher und jeder Besucher bringt Chaos in ein bestehendes System. Überleg dir mein Kind, wie viel Chaos möchtest du anrichten? Wie viel Stille kannst du aushalten oder ist es sogar deine Pflicht still zu sein? Ehrwürdig vor den Gaben.“ Wenn ihr Großvater die Lektionen vortrug, fühlte es sich an als würde er vor einem Publikum von Tausend Menschen sprechen, jedoch in Flüstersprache. Sonst war ihr Großvater sehr verschwiegen, bedankte sich ausschließlich beim Erntedankfest ausschweifend für die Gaben, die Samen und Gottes Gnade ihn hier leben zu lassen. Seit dem ihr Großvater tot war, spürte sie die Stille des Ortes, als hätte ihr Großvater seine eigene Stille dem Ort hinzugefügt. Manchmal hüllte es sie in ein wohliges Gefühl der Vertrautheit in ihrem Schaukelstuhl zu sitzen und sich an den Geruch der Pfeife zu erinnern. Gleichzeitig fühlte sie sich gelegentlich einsam, als müsste sie ihrem Großvater beweisen, nun seine Stille anzunehmen. Im Gegensatz zu früher war es in ihr nun still, da sie alleine war. Als Kind sprudelte sie vor Lautstärke und Neugierde, nun fühlte sie sich endlich, als wäre ihr Wissen mit ihrem Großvater verstummt. Für immer. Sie stand auf, um näher an den Fluss zu gehen. Sie hob ihr blaues Sommerkleid an, um die Füße in den Bach zu halten, das Wasser zu spüren und um sich abzukühlen. „Madame Lousianne, passen sie auf, dass sie nicht in den Bach hineinfallen“, rief ihr ihre junge Haushälterin entgegen. Sie stand auf der Terrasse und musste sie beobachtet haben. Lousianne war traurig, denn sie dachte an ihren Großvater, der im Garten nur flüsterte. Ihre Haushälterin hatte keine Idee davon wie störend dieser Ausruf für sie und den ganzen Garten war.

Sie fühlte sich ihrem Großvater verbunden und murmelte mit ihrem Mund seine Gedanken in sich hinein: „Wer kein Auge für Offensichtliches hat, dem wird das Verborgene ein ewiges Rätsel bleiben.“

Entweder war ihr Großvater ein so weise und naturliebender Mensch, wie sie ihn immer wahrgenommen hatte oder er war ein Mann, der die Anthropologie studierte, aber sich von den Menschen entfernte. Für sie stand fest sie wollte beides Sein, Mensch und natürlicher Mensch.

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