Die Bahnfahrt/ Dunkle Schatten

TW: Suchterkrankung

Die Bahnfahrt

Der kühle Wind kriecht unter das künstliche Fell meiner Jacke.
Es ist ungemütlich draußen, sodass ich mich beeile in die warme Straßenbahn einsteigen zu können. Ich setze mich auf einen Platz und schaue aus dem Fenster.
An der nächsten Haltestelle steigt ein jüngerer Mann ein.
Seine Plastiktüte, die er bei sich hat, taumelt genau wie er von einer Haltestange zur nächsten. Die Aufmerksamkeit der Bahnfahrenden ist auf den hageren Mann gerichtet und niemand sagt ein Wort.
Es passiert nichts weiter. Er setzt sich zu einem anderen Mann in einen Vierersitz. An der nächsten Haltestelle wechselt er den Platz.
Seine Hose ist kurz genug, sodass ich, als er an mir vorbei gegangen ist, punktuelle Wunden an seinen Beinen gesehen habe.

Die Bahnfahrt ist kurz und ich versuche mich mit Musik abzulenken.
Ich hoffe, dass der Drogen-Mann sich nicht zu mir setzt. Er könnte unkontrollierbar sein, plötzlich ausrasten oder Krabbeltiere sehen, die er versucht wegzutreten. Substanzen beherrschen ihn, was mir Angst macht, da ich ihn noch weniger einschätzen kann, was bei fremden Menschen ohne Drogeneinfluss schon der Fall ist.
Gleichzeitig weiß ich von mir, dass ich kein eskalierendes Verhalten an den Tag legen würde, hingegen andere das vielleicht bei einer kleinen Bemerkung von ihm tun würden.
Einerseits habe ich Angst vor dem Mann, andererseits sehe ich auch den Mann vor mir wie er vielleicht Unmengen an Trauer in sich zusammengeschnürt hat und mit Drogen versucht er sie zu betäuben. Mitleid durchzieht meinen Magen, der mir ein unbehagliches Gefühl gibt.
Möchte ich Abstand von dem Mann, weil ich diese Lebensrealität nicht in meinem eigenen Leben sehen möchte?

Ich erreiche meine Bahnstation. Geduldig warte ich bis die Türen sich öffnen. Schnell ziehe ich meine Pulloverärmel über meine Hände, um sie vor der bevorstehende Kälte etwas zu schützen.
Die Türen öffnen sich mit dem typischen Geräusch von der Mechanik der Türen wie sie nach außen gezogen werden.
Der Mann muss seine Stimme erhoben haben. Er hat als einziger in dem Abteil keine Maske auf, weswegen ich anhand seines weit aufgerissenen Mundes sehen kann, dass er irgendwas zu rufen scheint. Ich verfolge seine Augen, wo er hinschaut und meine Blicke sehen ein älteres Ehepaar aus der Bahn steigen. Auf dem Bahnsteig drehen sie ihre Köpfe in Richtung des Mannes. Ihre Blicke sind verärgert, gerade zu finster. Sie scheinen dem Mann ebenfalls etwas entgegenzurufen, während sich ihre Körper schon Richtung Ausgang der Bahnstation bewegt haben.
Meine Musik in den Ohren untermalt die Szene dramatisch als wäre ich in einem Stummfilm. Diese Ablehnung gegenüber offensichtlich Suchterkrankten Menschen in der Öffentlichkeit ist nichts Neues.
Trotzdem erstaunt mich die Wut der Menschen immer wieder.
Ich weiß nicht, was der Konflikt zwischen diesen drei Menschen war.
Hat sich das Ehepaar über den Mann empört? Hat der Mann das Ehepaar irgendwas gefragt?
Ist es egal? Denn egal was der Grund für die Auseinandersetzung war, es hinterlässt in mir ein anspannendes Gefühl. Ich steige ebenfalls an dieser Bahnstation aus und beobachte wie das ältere Ehepaar in den Fahrstuhl einsteigt, der sie auf die Straßenebene bringen wird.
Die Kälte gelangt trotz des Pullovers an meine Finger, sodass ich, als ich endlich Zuhause angekommen bin, einen kleinen Schmerz fühle.
Das Gefälle der Draußen- Kälte und der Treppenhaus- Wärme beansprucht meinen Körper. Ich schleppe mich die Treppen nach oben. Ich bin Zuhause.

Dunkle Schatten

Ich esse gerne gesalzene Erdnüsse, wenn ich Netflix schaue.
Also bereite ich mir eine Schüssel gesalzene Erdnüsse vor und suche mir einen Film aus. Meine Decke, die ab meiner Hüfte meinen ganzen Körper bedeckt, wärmt mich. Die Kälte, die ich auf dem nach Hause Weg gespürt habe, ist wie vergessen. Doch ich denke weiterhin an den Mann. Hat er ein Zuhause – also sowohl ein Wohnort als auch das Gefühl „Zuhause“ zu sein? Ist er eine der zukünftigen Kälte-Opfer, die draußen namenlos sterben?
Und was hat dieses ältere Ehepaar davon, jemanden, dem es offensichtlich schlecht geht, Wut entgegenzuschleudern?
Oder stelle ich den Mann automatisch als Opfer in meinem Kopf dar, obwohl er das Ehepaar beleidigt hat?
Es bedeutet für mich nicht, dass sich der Mann in einer Art Immunität befindet und alles sagen kann, weil seine Lebenssituation eine beschissene zu sein scheint, aber ich merke wie ich ihm mehr Toleranz einräume, weil das Ehepaar eben in seine Wohnung gehen kann und sich gemeinsam über ihr Erlebnis aufregen kann.
Der Mann hat vielleicht niemanden mehr: Einige Menschen ans alte Leben verloren, einige Menschen auf der Straße verloren.
Vielleicht hat er auch seine Familie und Freunde von sich weggestoßen oder konnte keine Beziehungen mehr aufrecht erhalten, weil die Sucht nun sein Leben war. Purer Stress: Geld auftreiben, Drogen kaufen, Drogen konsumieren und alles von Vorne.
Ich versuche meinen eben erlebten Stummfilm einen Stimme in meinem Kopf zu geben. Und die Frage, die mich beschäftigt, rückt näher an meine Gedanken heran:
Hätte ich den Mann fragen sollen, ob ich ihm helfen kann?
Und wie hätte ich ihm helfen können?

„Manchmal denke ich, dass es nicht die Drogen sind, wegen denen die Symptome so schlimm sind. Je weniger in mir ist, desto näher fühle ich das, was real ist, das, was nicht diese warme Watte um mich ist und das ist der eigentliche Horrortrip.“

Ich stelle mir vor, als hätte der Mann diese Worte wirklich in mein Ohr gesagt. Oder wenn er es nicht wortwörtlich gesagt hätte, hätte er es mir non-verbal kommuniziert. Dabei lege ich ihm Worte in den Mund, die er nicht gesagt hat oder vielleicht nie sagen wird. Es ist meine Vorstellung davon wieso neben dem körperlichen Entzug der psychische Entzug der blanke Horror ist.
Badend in Privilegien, was nicht bedeutet, dass ich nicht traurig sein darf, kann ich mir nicht vorstellen wie es ist vor nichts zu stehen – bezogen auf die Existenz, aber auch auf das Umfeld.
Dadurch, dass ich den Mann bemitleide, sehe ich ihn ihm auch nur die Suchterkrankung? Breche ich alle meine Gedanken, die ich über ihn verloren habe, nicht darauf hinab, dass er alles wegen seiner Sucht tut?

Meine selbst ausgedachten Worte, die der Mann zu mir in meiner ausgedachten Version gesagt hat, hallen in mir nach.
Ich flüchte mich gedanklich immer wieder in den Netflix Film, der neben meinen Gedanken her läuft, flüchte mich in den Geschmack der Erdnüsse, die von meinen Zähnen zu einer Art Erdnussmehl zermahlen werden.
Auch wenn es eine banale Tätigkeit zu sein scheint, versuche ich in eine Parallelwelt zu flüchten.
Eine Realität, der ich zuschaue, aber in der ich nicht selbst existieren muss, da ich nur Konsumierender bin.
Ich frage mich, ob es meine Angst ist, dass ich selbst erkenne, dass das „High“ der Drogen eine viel schönere Version der Realität ist, als die, die ich aktuell für die schönste halte.
Ich muss Drogen verurteilen, damit ich selbst nicht danach greife.
Ist es das, was eine so starke und vielleicht sogar gesunde Distanz zwischen mir und dem Mann in der Bahn erschafft?
Es ist nicht möglich in unserer Realität ein „High“ ohne Drogen zu erleben, oder?
Ich kann nicht high arbeiten, sodass ich dann folglich kein Geld verdienen würde und früher oder später auf der Straße leben müsste.
Dieser Gedanke macht mir Angst, genau wie Drogen und Drogen beeinflusste Menschen. Das unendliche Fallen in das vermeintliche Paradies des High-Seins, ist am Ende das Aufgeben der Realität, für die ich geschaffen bin und aus der ich nie fliehen kann, denn nur der Tod kann mich von dem Jetzt scheiden.
Denn am Ende können auch all das ausgeschüttete Dopamin, all die überforderten Rezeptoren im Gehirn nicht den Wunsch nach Verständnis, Geborgenheit und Liebe verdrängen – nicht verdrängen, dass die Sucht einsam macht.

Diese Erkrankung ist wie ein schwarzer Schatten, der eine Person umgibt, sodass man kaum noch erkennen kann, wer sich hinter ihm verbirgt.
Die Person selbst vergisst oder verdrängt das, was sie einst ausgemacht hat, sodass weder sie selbst noch andere die Wirklichkeit hinter der Erkrankung erkennen können. Ein Kreislauf der Schuld und Aggression, der keine Fehler & kein Verzeihen duldet, setzt sich in Gang und bestimmt zwischenmenschliche Beziehungen, die auf kurz oder lang zerbrechen.
Denn alles, was an der Oberfläche bleibt ist nur getränkt in dem dunklen Schatten bis alle denken, dass es immer nur den Schatten gab.

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