Die letzten Wochen sind mir eintönig vorgekommen. Die Uhrzeit ist mir inzwischen gleichgültig geworden, sodass ich beinahe meinen freien Tag vergessen hätte. Erst als mich Susanne fragte, was ich denn an meinem freien Tag machen würde, fiel mir ein, dass es soweit war. „Alleine Zuhause sitzen“, war mein erster Gedanke. Zuerst war der Gedanke ganz angenehm, da ich das mit „Ausschlafen“ in Verbindung brachte. Da ich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Jetlag haben werde, würde selbst das nicht unbedingt in Erfüllung gehen. Der Gedanke entwickelte sich zu einem Problem, da es für mich einige Sekunden schwierig wurde, eine vernünftige Antwort zu finden. Ja..was mache ich denn an meinem freien Tag? „Was würdest du denn machen?“, versuchte ich der Frage charmant auszuweichen. Susannes Augen fingen an zu leuchten. „Mein Mann und ich gestalten seit einiger Zeit unseren Garten um. Jetzt, wo die Kinder zu alt und zu „cool“ für das Riesentrampolin sind, kommt dort ein Teich hin. Während mein Mann den Teich in Angriff nimmt, kümmere ich mich um die Bepflanzung -sprich die Beete. Aber das ist ja eine Wissenschaft für sich..das ganze Gärtnern. Neben meiner Schaufel und meiner Harke, habe ich noch nie so häufig Gartenbücher in der Hand gehabt. Und das Gärtnern hat ja auch sowas meditatives..“, redete sich Susanne in Rage und schwärmte von ihrem neuen Hobby. Je leidenschaftlicher sie von ihren Hortensien und ihren Tomatensetzlingen redete, desto mehr schweifte ich ab. Mich überkam die Traurigkeit, weil ich für nichts einen solchen Enthusiasmus aufbrachte wie Susanne für ihr Erdreich und gleichzeitig war ich wütend, weil ich einfach allgemein zu faul bin, um irgendwas auf die Reihe zu bekommen. Der heutige Kapitän Lukas setzte zur Landung an. „Ladies and Gentleman, please fasten your seatbelts..“, hörte ich den Anfang seiner Ansprache. Susanne und ich schnallten uns an. Bei der Landung merkte ich, dass ich einen kleinen Stein im Schuh hatte. Es zwickte mich an meiner Ferse, wenn ich die Füße bewegte. Allerdings würde es sicherlich keinen guten Eindruck machen, wenn ich den Passagieren meine verschwitzen Füße entgegenstrecken würde. „Lächeln, anstatt stinken“, dachte ich.
Als alle Passagiere den Flieger verlassen haben, wir das Flugzeug nachbereitet hatten und wir uns in unserer Kabine aus den Bleistiftröcke zwängen konnten, merkte ich erst wieder, dass der Stein immer noch in meinem Schuh war. Ich hatte mich wohl an ihn gewöhnt.
Egal wohin ich gehe, da drückt etwas im Schuh. Dabei habe ich es zu Anfang gar nicht gemerkt. Später habe ich es dann ignoriert. Ich habe frei. Morgens mache ich mir entspannt einen Kaffee, nachdem ich mein Haar nach der Dusche in einen Handtuch- Turban gewickelt habe. Während ich die Maschine bediene und ich meine Frühstückssachen aus dem Kühlschrank räume, muss ich mir ab und an den Turban richten. Dort sitzt er schief und da hängt doch eine nasse Strähne aus dem Frottee- Turm raus. Meine Laune ist gut, denn ich habe frei. Was unternehme ich an diesem Tag? Ich weiß! Für die Arbeit wollte ich mir neue Brotboxen kaufen, damit ich es endlich auf die Reihe bekomme mir vernünftiges Essen mitzunehmen. Wenn ich mir die neue, gut aussehende Tupperware jeden morgen zurecht lege, will ich a) mein schlechtes Gewissen antreiben mit „Du hast dir diese Dinger gekauft, dann benutze sie gefälligst auch“ und b) mich selber mit den Boxen einladen im Sinne von „Schau mal‘ in diesen Boxen könnte dein gesunder Bulgursalat von fancyessen.com sein. Solch‘ schöne Boxen dürfen doch nicht leer bleiben“. Da fällt mir in meiner Träumerei ein, dass ich meinen freien Tag ursprünglich dafür nutzen wollte mal nicht an die Arbeit zu denken. Was mache ich nur? Ich denke kurz daran, dass ich einem guten Freund schon vor guten drei Wochen zurückschreiben wollte. Zu meiner Verteidigung: Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, den man nur über seine E-Mail Adresse erreicht. Lorenz arbeitet den ganzen Tag am Handy – irgendwas mit Medien – und hat sich als Ziel gesetzt im Privatleben aufs Handy weitgehend zu verzichten, da er sowieso mindestens 8 Stunden am Tag auf diesen Bildschirm glotzen würde. Pop-Up Nachrichten stressen ihn allgemein. Wegen diesen Gründen geht er nur ein Mal am Tag an seinen Laptop, um seine E-Mails zu checken. Lorenz war schon immer speziell, aber ein sehr guter Zuhörer, wenn es drauf ankommt (und er seine Mails liest). Lorenz trennt Arbeit und Privatleben mehr als streng. Wie denn bloß? Mir fallen für den heutigen Tag nur Aktivitäten für die Arbeit ein, obwohl ich so dringend nicht daran denken will. Ich könnte meine Tasche für morgen bereitmachen und meine Kleidung für morgen rauslegen. Die letzten Wochen wollte ich immer mal nach Fortbildungsprogrammen schauen, wofür ich jetzt Zeit hätte. Falls mir gar nichts einfällt, könnte ich auf der Arbeit anrufen und fragen, ob ich für jemanden einspringen soll. Was ist nur los mit mir?
Ich versuche der Sache auf den Grund zu gehen. Wann hat das eigentlich angefangen, dass ich nur noch an die Arbeit denke? Ich meine so spannend ist mein Job jetzt auch wieder nicht, dass es das wert wäre jede freie Minute an ihn zu denken. Vor gut einem halben Jahr habe ich das Flugunternehmen gewechselt, da ich weder mit der Crew, noch mit der Bezahlung einverstanden war. In meinem neuen Unternehmen sollte sich das ändern, was es auch hat. Ich kann mich glücklich schätzen mit meiner neuen Stelle und doch fehlt das Glücksgefühl, was ich aus anderen Zeiten kenne. Das warme Gefühl von Zufriedenheit setzt in meiner häuslichen Umgebung komplett aus. Eher träge trage ich mich durch meine Wohnung und an manchen Tagen drücke ich sogar den Telefonanruf meiner Schwester weg, weil ich niemanden mehr hören oder sehen will. Das einzige, was mich aufrüttelt, ist mein morgiger Wecker, der mir meinen Arbeitsbeginn vor Augen führt. Auf der Arbeit empfinde ich sogar ernsthafte Freude in mir, wenn ich mit Kollegen oder auch Passagieren lache, aber kaum trage ich meine Privatkleidung und löse den streng sitzenden Dutt, dann löst sich auch die Freude wie in Luft auf. Auf die Uhr gucke ich nur, wenn der Wecker klingelt, da ich den Rest des Tages quasi einstudiert habe. Auch wenn es jeden Tag neue Situationen gibt, fühlt es sich doch so gleich an. Ist es das, wovon depressive Künstler in ihren Romanen schreiben? Alles wird als monoton und zwanghaft dargestellt. Die Farben sind dunkel oder matschfarbend und der Protagonist ist in einer Endlosschleife gefangen, aus der er nur durch die Veränderung seines Weltbildes durch eine Erkenntnis, die er auf sich Selbst übertragen kann, entkommt. Viel zu kompliziert das Ganze. Aber was muss ich erkennen, um meine Gefühlshaushalt regulieren zu können? Außerdem will ich meinen Alltag nicht ändern, da ich gut zurechtkomme. Ich habe das Gefühl mir kommen die Wochen monoton vor, weil meine Gefühlswelt monoton geworden ist. Es sind nicht die Aktivitäten und die Routinen, die mir vorkommen wie ein Einheitsbrei, sondern meine Gefühle. Wie ändere ich mein Inneres, ohne das Drumherum verändern zu wollen? Das scheint selbst mir eine unmögliche Idealvorstellung zu sein.
Ich fange an meine Kleidung zusammenzulegen und staubzusaugen. Dadurch, dass meine Wohnung für mich eine Art Durchgangsraum geworden ist, liegen überall meine Socken, Hosen und Pullover auf den Möbeln. Beschämender Weise habe ich auch einige Teller unter meiner Couch gefunden. Früher war ich mal ordentlich. Als die Möbel freigeräumt und der Boden gestaubsaugt war, setze ich mit einer Chipstüte auf meinem Balkon. Der BBQ Geschmack erinnert mich an einen Grillabend mit meinen Freunden. Wir haben Karinas Abschied gefeiert, da sie vor einem Jahr nach Amerika ausgewandert ist. Sie hat ein Auslandssemester in den Staaten gemacht, wo sie ihren jetzigen Partner an der Universität kennengelernt hat. Rian war einer der Leute, die den „Ersti-Tag“ für die Neuankömmlinge in ihrem Studiengang gestalteten. Karina sei ihm das erste Mal aufgefallen, als sie während der Kneipentour mehrmals Aschenbecher hat mitgehen lassen, was einem Barkeeper aufgefallen ist und sie beinahe an ihrem 3. Tag in den USA eine Anzeige wegen Diebstahls bekommen hat. Einen positiven ersten Eindruck konnte man das wohl nicht nennen! Aber sie scheint das Ruder noch herumgerissen zu haben, sonst wären die beiden jetzt wohl kaum verlobt. Karina war meine beste Freundin, die mich früher immer motiviert hat unter Leute zu gehen, um die Ernsthaftigkeit und die Verklemmtheit meines Lebens für einen Abend vergessen zu lassen. Sie fehlt mir. Ihre hitzige und enthusiastische Art fehlt mir. Lange hatte ich nicht mehr an sie gedacht, denn irgendwie drücke ich mich davor mir einzugestehen, dass sie tausende Kilometer entfernt von mir ist. Vermisst sie mich überhaupt? Meine gute Laune kracht zusammen wie ein kleines Paddelboot auf der turbulenten See. Ich habe keine Chance aktiv gegen diese depressive Stimmung anzukämpfen, wenn ich mich von dem erstbesten Gedanken schon aus der Bahn werfen lasse. Sollte ich vielleicht auch Tomaten auf meinen Balkon pflanzen wie Susanne? Ist es das, was ich dringend brauche – ein Hobby, dass mich mit Leidenschaft erfüllt?
Stunden des endlosen Grübelns sind vergangen und ich sitze immer noch auf meinem Balkon. Die Chipstüte umklammere ich als wäre sie lebensnotwendig. Sieht dieses Bild in Realität genauso jämmerlich aus wie ich es mir vorstelle? „Und dann noch dieses Selbstmitleid…jetzt reiß dich mal zusammen!“, rufe ich von meinem Balkon in den Himmel. Ich stehe auf, schmeiße die Chipstüte in den Mülleimer und schnappe mir die übergroße Ikea- Tasche, die ich unter dem Taschenhaufen neben meiner Haustür begraben hatte. Diese Durchgangswohnung sollte nun meine Wohnung werden, denn wie kann ich denn anfangen zu leben, ohne einen Ort dafür zu haben? Ich bin weder ein Freigeist noch ein spiritueller Mensch – in der Ruhe liegt nicht die Kraft und in der Freiheit liegt nicht mein Zuhausegefühl. Ich brauche ein festgelegtes Zuhause, wo ich mich sicher fühlen kann und mich auch alleine geborgen fühlen kann. „Du kaufst jetzt Pflanzen, Bilderrahmen, schöne Kissen, Kerzenständer mit dezenten Kerzen, einen Teppich und alles passende Dekogedöns, was dir auch nur im entferntesten gefällt“, rede ich mir selber ein, denn eigentlich finde ich es unnötig für Dekoration Geld auszugeben. Wenn ich eh nie Zuhause bin, dann brauche ich auch keinen Teppich, der mir beim Staubsaugen nur im Weg ist oder wo ich im schlimmsten Fall noch einen Aufsatz für den Staubsauger kaufen muss, damit der Teppich haarfrei wird. Aber vielleicht sind es diese Details in meinem Leben, die mir gefehlt haben und die mich so leer fühlen lassen haben. Ein Versuch ist es mir definitiv wert, solange ich meine Laune konstant auf diesem Level halten kann. Ich darf bloß nicht an die Arbeit, an Karina oder an meinen Neid auf Susannes Gartenliebe denken. „Let’s get broke and wasted!..Nur ohne Party, ohne Drogen und ohne Sozialkontakte“, denke ich noch bevor die Tür ins Schloss fällt. „Aber wasted bin ich schon und broke werde ich nach der Shoppingtour sein“
Mehrere Stunden hatte ich mich durch Ikea gekämpft. Ich habe nur von einem Gang bis in den nächsten gedacht und einfach alles eingepackt, was mir spontan gefallen hat. Die Duftkerzen zum krönenden Abschluss dürfen natürlich auch nicht fehlen. Dieser Limetten-Hibiskus-Kokosnuss Duft hatte mir in meinem bisherigen Leben anscheinend so sehr gefehlt, dass ich nun meine ganze Wohnung damit – wie meine Oma sagen würde- „zu müllen“ könnte. Mir gefällt prinzipiell an dieser Shoppingtour rein gar nichts. Weder wollte ich mit fremden Menschen einen Gang teilen, noch konnte ich mich für Dekorationen begeistern. Ich versuche mir einzureden wie stolz ich auf mich sein kann, dass ich meine „Comfort- Zone“ verlassen habe und mich in das wirkliche Leben eines funktionierenden Erwachsenen gestürzt habe. Das belächle ich unmittelbar nach dem Gedankengang. Welcher wirklich reflektierte Erwachsene kauft sich Dekorationen für seine Wohnung, obwohl er sie nicht braucht, nur um die Unzufriedenheit mit dem eigenen Gefühlsleben zu verdrängen? Erwachsen würde das meine Oma sicherlich nicht nennen und ich auch nicht. „Mut zu sprechen kann ich mir wirklich gut!“, denke ich, während ich in der Kassenschlange stehe und auf meine Ausbeute schaue. In Trippelschritten hänge ich dem Vordermann auf den Fersen. Erst kurz vor dem Kassenband merke ich, dass ich wie gestern einen kleinen Stein im Schuh hatte. Warum ist mir das denn nicht früher aufgefallen? Bei der Bettenausstellung hätte ich mich wunderbar hinsetzen können und den Stein unbemerkt entfernen können. In der Warteschlange meinem Vor- der Hintermann eine Geruchsprobe von meinem Käsefuß zu geben, hatte ich dann doch nicht vor. Na toll. Jetzt muss ich bei jedem Schritt diesen kleinen Stein, der auf meinen Ballen drückt, ertragen, der erstaunlich viel Schmerzen verursachen kann (für seine Größe). Ist es denn Zufall an zwei Tagen hintereinander einen Stein im Schuh zu haben? Ich fühle mich vom Pech verfolgt. Einerseits ist es albern zu denken ein Stein im Schuh ist ein schlechtes Omen wie z.B. wenn einem eine schwarze Katze über den Weg läuft, andererseits passt es zu meiner aktuellen Lage besser als ich es möchte. Treibt mich meine Unsicherheit nun zum Aberglauben?
Das einzige, was mich wirklich aufheiterte und mir entgegen dem Stein-Dilemma neue Energie gab, war der gute Hot-Dog, den ich mir nach dem Bezahlen schneller als nötig in den Mund stopfe.
Erst als ich den Kofferraum meines Autos erblickte, in dem das pure Chaos herrschte, verging mir mein Hot-Dog Lächeln wieder. „Wie soll ich den ganzen Scheiß da nur reinstopfen?“, frage ich mich laut. Erstmal muss ich die Sitze umklappen. Ich versuche den Kofferraum so weit wie möglich aufzuräumen und immer wieder zwickt mich der kleine Stein dabei in den Fuß. Jetzt wäre es einguter Zeitpunkt ihn zu entfernen. Ich setze mich auf den einen umgeklappten Sitz und schmeiße den Stein in das Beet, das den Parkplatz umrandet. Ich halte einen Moment inne und schaue auf die graue Wolkendecke. Man habe ich Lust Tetris mit Dekorationen in meinem Auto zu spielen. Nach einer Minute Sitzzeit und Fluchen über diese dumme Idee, raffe ich mich auf und hieve die Pflanzen, Kerzen, Teppiche, die eine Kommode, Bilderrahmen und Lampen ins Auto. Als ich nach gefühlten Stunden den Kofferraum schließen konnte, atme ich tief durch und schiebe den Wagen zurück an die Wagensammlungsstelle – oder wie heißt dieser Ort? Hinterm Steuer muss ich wieder eine Minute durchatmen. Ab nach Hause!
„Jetzt bin ich genauso wasted wie vorher und ich habe es nicht einmal geschafft richtig broke zu werden“, denke ich. Insgeheim bin ich froh darüber, weil es das auch nicht wert wäre. Es dämmert langsam und normalerweise würde ich jetzt anfangen zu kochen, aber das würde sich heute verschieben. Ich beginne damit die Teppiche, die ich für Wohn- und Schlafzimmer gekauft habe, abzusaugen. Und siehe da: Es geht mit meinem schon vorhandenen Staubsauger- Aufsatz reibungslos. Ich bringe die neue Stehlampe ins Wohnzimmer und positioniere die Töpfe mit den Pflanzen auf meinen Tischen. Nach und nach wird es wohnlicher wie ich finde. Die Duftkerzen verteilen ihren Duft schon in meiner Wohnung, ohne dass ich sie anzünde. Die Bilder stelle ich erstmal an die Wände, da ich zu faul bin in den Keller zu gehen, um das Werkzeug zu holen. Ich setze mich auf mein aufgeräumtes Sofa. Was für ein seltsames Gefühl, dass die Wohnung inzwischen aussieht, als wäre ich wieder ordentlich und als würde in dieser Wohnung tatsächlich jemand WOHNEN. Und jetzt? Wo ist meine bahnbrechende Erkenntnis? Ist jetzt, wo der Stein aus meinem Schuh entfernt wurde, das schlechte Omen beiseite gelegt? Jetzt kann ich Grübeln bis zum Morgengrauen, mir was kochen..einsam und alleine Nudeln oder sowas essen und dann? Übermorgen gehe ich dann wieder zur Arbeit, dann bin ich abgelenkt und jedes Mal, wenn ich frei habe, muss ich dann bei Ikea einkaufen? Ich werde unruhig. Was ist das für ein Leben? Routinen sind schön, denn dann bin ich zeitlich strukturiert, auch wenn alles andere ein Chaos ist, aber nur für die Arbeit leben? Ist das eher der Stein in meinem Schuh, der mich davon abhält das Paar Schuhe, was ich die ganzen Jahre lang getragen habe, ohne es zu merken, gegen ein frisches Paar einzutauschen? Die Schuhe sind inzwischen gute gebrauchte. Kein anderer Fuß dieser Welt könnte in diesen Schuh kommen, weil der Schuh quasi meine Fußform wie in Gips gegossen darstellt. Aber nur weil der Schuh bequem ist, wird er mich nicht zu neuen Ufern tragen, sondern immer die gleichen Straßen mit ihnen laufen. Im wackeligen Gelände würde sich die Sohle nämlich mit hoher Wahrscheinlichkeit abschälen. Ich sollte etwas wagen, anstatt meinem Kontrollzwang nachzugeben. 19:54Uhr zeigt meine Digitaluhr auf der Fensterbank an. Ich gehe in die Küche, um etwas zu kochen. Nudeln in den Topf schmeißen und Pesto mit Parmesan bereitstellen ist ja keine große Sache. Ein bisschen Zitronenwasser mit Gurkenscheiben fertig machen und voilà ich bin bereit für einen Abend mit mir und meinen Grübeleien. Mein Handy klingelt. „Hey I just Met you and this is crazy, but here’s my number so call me maybe“, singt es lautstark aus meinem Handy. Diesen Klingelton habe ich eines Abend betrunken für den Anruf meiner Schwester eingestellt, da mich dieses Lied genauso nerven würde wie sie. Dieser gemeine Witz hatte an dem Abend ein paar Lacher geerntet, was mein betrunkenes Ich dazu gebracht hat, den Klingelton tatsächlich einzuspeichern.
„Jaa“, melde ich mich mit vollem Mund.
„Na störe ich dich gerade beim Essen?“, fragt Milena mich mit einem herausfordernden Unterton.
„Jaaa“
„Und hast du mich vermisst?“
„Jaaa“, antworte ich kurz bevor ich eine Nudel in meinem Mund herumtänzeln lasse, da sie viel zu heiß für meine Mundschleimhaut ist.
„Soll ich morgen lieber nochmal anrufen?“ Milenas Frage ist ernst gemeint.
„Nein alles gut, worüber willst du denn reden? Von mir gibt es jedenfalls nicht viel zu berichten und ich bin heute eher Zuhörer einfach“, gestehe ich ihr.
„Okay was ist los? Sag’s mir!“, fordert mich meine Schwester heraus.
Ich hätte nicht erwähnen sollen, dass ich heute nicht reden will. Es ist immer das gleiche mit meiner Schwester. Sie lässt am Ende nicht locker bis sie mich ausgequetscht hat wie eine hilflose Zitrone, deren Saft wie Blut aus ihrem Fruchtfleisch in das Getränk tropft.
„Ich bin echt nicht in der Laune mit dir drüber zu reden“
„Warum nicht? Ich weiß, dass ich die einzige Person bin, der du alles erzählst. Selbst Karina weiß inzwischen nicht mehr alles..Zeitverschiebung, Arbeit bli bla blub. Ist es wegen ihr? Hast du heute dein „Ich-habe-frei-und-kein-Privatleben-Tief?“, fragte sie mich als wäre sie meine Psychoanalytikerin. Das gefällt mir gar nicht so leicht zu durchschauen zu sein. Warum kennt mich meine Schwester wahrscheinlich besser als ich mich? Und habe ich nicht das letzte Mal als ich frei hatte ein ähnliches Gespräch mit ihr geführt? Wie viel Wein hatte ich an dem Abend wohl getrunken?
„Milena, ich weiß, dass du mir helfen willst und das schätze ich auch an dir, aber warum musst du dabei immer so reden, als wüsstest du bereits alles? Ja, du bist die Person, mit der ich neben der Arbeit, am meisten rede, aber das heißt nicht, dass du allwissend bist. Ist es deine neue Art? „Heute klatsche ich meiner Schwester meine Psychoanalyse ihres Lebens ins Gesicht, ohne sie vorher zu fragen, ob sie die hören will!“ Denkst du dir das? Ich brauche nicht auch noch von dir hören wie armselig ich bin und das ich nichts aus meinem Leben mache, außer arbeiten. Ich war heute bei Ikea und dachte Deko und schöne Lampen werden mein Wohnzimmer wohliger für mich gestalten und mir ein Zuhausegefühl verleihen. Stattdessen fühle ich mich als wäre ich immer noch der Besuch, nur eben in einer schöneren Wohnung. Ich habe nichts außer der Arbeit, was meinem Leben einen Sinn gibt. Welcher Mensch, den ich kenne, hat nur seine Schwester als Bezugsperson? NIEMAND. Nur ich telefoniere fast jeden Abend mit meiner Schwester. Wir treffen uns ja nicht mal, einfach weil wir zu weit voneinander entfernt sind. Warum ist es die Entfernung, die mein Leben zerstört? Es gibt Menschen in meinem Leben neben der Arbeit, nur eben zu weit weg. Immer kommt bei meinen Sozialkontakten etwas dazwischen. „Tut mir leid, ich wohne eben in Amerika, da kann ich mich nicht melden“, „Tut mir leid, ich kann dir nicht helfen bei deinem Umzug, weil du es kann niemand auf meine Kinder aufpassen“, „Tut mir leid ICH INTERESSIERE MICH GAR NICHT FÜR DICH“, sprudelt es aus mir heraus. Die letzten Sätze habe ich so laut geschrien, dass ich danach kurz checken musste, ob das Fenster offen war. Es war zum Glück zu.
Am anderen Ende der Leitung war Stille. Bestimmt 30 Sekunden hat weder Melina es gewagt einen Ton von sich zu geben noch ich. Ich schäme mich sofort so ausgerastet zu sein.
„Es tut mir leid. Du hast Recht – ich wollte dich nur provozieren, um etwas aus dir herauszubekommen. Das war egoistisch und nicht darauf bedacht wie es dir damit gehen könnte“, lenkt Milena mit einer sanften Stimme ein.
Das war mein letzter Stoß. Meine Tränendrüsen öffnen sich ruckartig und die Tränen fließen, angetrieben von einem lauten Schluchzen, aus meinem Körper heraus. Innerhalb kürzester Zeit hat meine Schwester mehr Emotionen in mir geweckt, als ich die ganzen letzten Stunden gefühlt habe. Was ist nur los mit mir?
„Du bist einsam, wenn du dich nicht um dich kümmerst! Sozialkontakte gehören dazu, aber du musst auch bereit sein Menschen in dein Leben zu lassen. Das Karina nach Amerika gegangen ist, hat dich schwer getroffen und vielleicht auch verletzt. Sie ist ein toller Mensch und seine vertrauteste Person gehen zu lassen, ist ein Prozess, der nicht mal eben abgeschlossen ist. Möchtest du meine Meinung hören?“, fragt mich Milena als mein Schluchzen nachgelassen hat.
„Ja“, jammere ich ins Telefon.
„Entweder du rufst Karina an und all‘ deine alten Bekanntschaften, die du durch sie hattest oder du überlegst dir, ob es der neue Job wert ist, dass du dich so fühlst. Ich kann dir anbieten bei mir zu wohnen bis du dir sicher bist, wohin es dich treibt oder vielleicht gefällt es dir ja im Norden bei mir. Du bist immer so versessen darauf dein Leben im Griff zu haben, aber merkst du nicht wie du dir mit dieser zwanghaften Struktur deine Freiheit Mensch zu sein verbaust?“
„Weißt du…ich hatte zwei Tage hintereinander einen Stein im Schuh“, setze ich an und pausiere dann.
„Ja und?“, fragt Milena.
„Beim ersten Mal hatte ich einen kleinen Kieselstein in meinen Arbeitspumps. Ich wollte aber nicht vor den Passagieren meine Schuhe ausziehen, da es mir unhöflich vorkam. Also wartete ich ab bis ich nach der Schicht in der Umkleide war und meine Schuhe wechselte. Das zweite Mal war heute im Ikea. Ich stand in der Schlange, traute mich aber nicht meine Schuhe kurz auszuziehen und wartete bis ich alleine an meinem Auto den Stein aus dem Schuh holen konnte. In beiden Fällen muss der Stein schon länger in meinem Schuh herumgetanzt sein und erst in Momenten, wo ich umgeben von Menschen war, schmerzte mich der Stein. Dann habe ich bei beiden Malen den Schmerz ignoriert und mich erst von ihm befreit, als ich für mich alleine war. Was ich damit sagen will…Ich glaube ich habe mir mein perfektes Leben vorgestellt und versucht danach zu leben. Dann hat der Stein mein perfektes Bild desillusioniert, da ich versucht habe mich an den Schmerz zu gewöhnen, es hat aber nicht funktioniert. Vor Außenstehenden wollte ich nicht zeigen, dass ich erschöpft bin und meine Schuhe ausziehen möchte. Ich wollte einfach nicht, dass mich jemand fragt, ob alles okay sein. Nein ist es nicht, aber ich wollte es mir nicht eingestehen. Und jetzt sitze ich hier, telefoniere mit dir und rede über Steine in meinem Schuh, die nichts zu bedeuten haben.“
„Ich glaube du kannst dir helfen, indem du dich nicht fragst wie du am besten in deine Idealvorstellung passt, sondern indem du dich fragst was zu dir passt.“
Wir telefonieren noch eine ganze Weile bis wir beide beschließen schlafen zu gehen. Ich öffne mein Schlafzimmerfenster, um die kühle Brise von draußen hereinzulassen und atme tief durch. Mein Nachthemd flattert mit dem Saum durch meine Beine hindurch und meine Harre verwehen durch den Wind. Mir ist kalt und das brauche ich in diesem Moment. Auch wenn mein Kopf von dem Weinen brummt, fühle ich mich besser. Es konnte ausbrechen. Innerlich habe ich fürs erste meinen miesen Kieselstein aus dem Schuh entfernt. Ich schließe das Fenster und lege mich auf mein Bett, knipse das Licht aus und denke nach. Was passt zu mir?
Kurz bevor ich einschlafe, treffe ich eine Entscheidung.
Am Morgen stehe ich direkt, nachdem meine Augen sich daran gewöhnt hatten, dass sie nicht mehr geschlossen sind, auf. Ich putze meine Zähne, ziehe mir einen Morgenmantel über und koche einen Kaffee. Ich greife fest entschlossen nach meinem Handy. Mein Herz fängt an zu pochen wie verrückt als ich die Nummer wähle. Mir ist bewusst, dass dieser Anruf teuer für mein altes Leben wird, denn ich werde mich nicht mehr damit abspeisen lassen mich selber in meinem Leben mit Ikea Dekorationen glücklich machen zu wollen. Was war das für eine alberne Idee? Es gibt einen Grund, warum sich niemand wirklich für mich interessiert – ich gebe nie etwas von mir Preis, da ich im Privatleben quasi nicht existiere. Ein klassischer Burn- Out und ich bin in die Falle getappt, oder? Ich warte. Ich warte noch ein paar Sekunden länger.
„FINE!!“, ruft Karina regelrecht in den Hörer, sodass mir beinahe die Ohren wegfliegen. Das war der Enthusiasmus, der mir in letzter Zeit so an meiner Seite gefehlt hat.
„Es ist so schön, dass du dich meldest! Wie gehts dir?“, sagt sie und ich kann ihr Lächeln durch den Hörer förmlich spüren.
„Karina! Du weißt ja gar nicht wie ich das vermisst habe deine fröhliche Stimme zu hören“, fange ich an zu reden, wobei mir die Tränen in die Augen steigen, „ich hatte die letzten Tage immer mal einen Kieselstein im Schuh..ich weiß das klingt banal, ist es auch. Aber ich dachte dieser Kieselstein bringt mir Pech und erinnert mich daran wie nervig mein Leben ist und daran, dass ich diesen Fakt ignoriere. Und ich hatte zwei Optionen – 1. diesen Gedanken glauben und 2. mir ausmalen, dass der Kieselstein eine Erinnerung daran ist, dass ich mir einen Ruck geben muss. Es ist allerhöchste Zeit und ich wundere mich noch niemals zuvor darauf gekommen zu sein- hast du übermorgen um diese Uhrzeit was vor? Ich werde gleich zwei Tickets nach Amerika buchen. Meine Schwester und ich kommen dich besuchen! Ich brauche ein Abenteuer!“

Kommentar verfassen